Aufsatz: Unterwegs im Helldunkel
Stefanie Stallschus: Unterwegs im Helldunkel der Städte/Out and About in the Urban Chiaroscuro, in: Im Licht der Nacht/In the Spotlight of the Night, Ausst.-Kat. KAI 10 Arthena Foundation und Marta Herford 2019/20, Köln: Wienand, S. 125-132.
Das Licht einer Straßenlaterne nach Bedarf an- und ausschalten zu können, erscheint auf den ersten Blick recht praktikabel. Im Sommer, wenn die Nächte kurz sind und die Dämmerung des Abends fast nahtlos in die des Morgens übergeht, ist eine Beleuchtung ohnehin kaum notwendig. Mir fallen weitere Situationen ein, in denen weniger Licht höchst willkommen wäre, beim Mitternachtspicknick im Park etwa, oder bei der Rave-Party auf einem Parkplatz, auch das Problem des störenden Lichts vor dem Schlafzimmerfenster hätte sich erübrigt. Doch halt – wäre es nicht voraussehbar, dass es alsbald Streit um das Licht geben würde? Und wäre es nicht doch etwas umständlich, die Laternen einzeln wieder anschalten zu müssen, wenn Licht gebraucht wird?
Der Vorschlag, die Straßenlaternen in Paris mit Lichtschaltern auszustatten, so dass sie aktiv genutzt werden können, geht auf eine Gruppe aus der künstlerischen Bewegung des Lettrismus zurück, aus der später die Situationistische Internationale entstand. Mitte der 1950er Jahre veröffentlichte die Gruppe um Guy Débord einen Artikel mit Vorschlägen zur Verschönerung der Stadt Paris, der unter anderem auch empfahl, die Parkanlagen und U-Bahn-Schächte bei Nacht offen zu lassen und eine gedämpfte bzw. flackernde Beleuchtung einzurichten.[1] Der Artikel ist ein Plädoyer für eine spielerische Umnutzung der vorhandenen städtischen Strukturen im Sinne der „Psychogeografie“. Darunter verstanden die Mitglieder der Situationistischen Internationale eine affektive Vermessung und Aneignung des urbanen Raums. In der Kritik der Gruppe stand die zunehmende Funktionalisierung des öffentlichen Raums in der Nachkriegszeit, dem sie die künstlerische Strategie des Umherschweifens im Labyrinth der Stadt entgegenhielt, insbesondere bei Nacht. Ungewohnte Lichtverhältnisse sind das vielleicht einfachste Mittel, um die städtische Umgebung verfremdet zu erleben, andere Erfahrungen im Alltag zu machen, eingeschliffene Verhaltensweisen in Frage zu stellen. […]